Nullpunkt


Als ich in das Casino kam, um im ruhigen Gästeraum noch eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor ich zu einem wichtigen Kunden losfuhr, saß Erich Stern mit dem
Rücken zum Raum ganz allein an einem Tisch und starrte aus dem Fenster. Ich ging zu ihm hinüber, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte fröhlich: “Hallo, ich grüße Sie.“ Als er sich umwandte, erschrak ich. Sein Gesicht war blass und abgespannt, sein Blick fast verzweifelt, und an den Wangenmuskeln erahnte ich die zusammengebissenen Zähne. Ich setze mich ihm gegenüber und fragte:
„Was ist los, Erich, reden Sie, was ist passiert?“
Seine Antwort war leise und tonlos: „Gestern Nachmittag ist mein Sohn mit dem Motorrad verunglückt. Die Ärzte befürchten, dass er nie wieder richtig laufen kann, vielleicht muss er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen.“ Ich kannte seinen Sohn, einen fröhlichen, aufgeweckten Jungen, der mühelos sein Abitur gemacht hatte, jetzt studierte und zu vielen Hoffnungen Anlass gab.
Vorbei?
„Warum muss so etwas passieren?“ fragte Erich Stern. „Können Sie mir das erklären?“ Ich schüttelte wortlos den Kopf. „Am Schlimmsten sind die Vorwürfe, die meine Frau und ich uns machen: Wenn wir ihm das Motorrad nicht finanziert hätten, wäre das alles womöglich nicht geschehen. Vielleicht hätten wir ihn noch öfter und dringlicher ermahnen müssen, vorsichtig zu fahren. Wie wird das jetzt weitergehen, was wird aus seiner Zukunft? Er hat eine Freundin, sie wollten sich in ein paar Monaten verloben. Wird sie zu ihm stehen, bei ihm bleiben? Und mein Sohn: Wird er es verkraften, wenn er die Wahrheit erfährt, und wer sagt es ihm? Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“ Er umspannte mit beiden Händen die Kaffeetasse vor sich, als ob er einen Halt suchte. Nach einer Weile, als er sich ein wenig gefangen hatte, sagte er: „Ich danke Ihnen, dass Sie nicht versucht haben, mich mit irgendwelchen Worten zu trösten. Verstehen Sie,
ich könnte jetzt keine Ratschläge und keine Rezepte vertragen. Ich weiß, Sie sind Christ, beten Sie für meinen Jungen. Ich wollte, ich könnte das auch wieder. Seit meiner Kindheit habe ich es nie mehr ernsthaft versucht.“ „Dann tun Sie es jetzt, in diesem Augenblick, in dieser Situation“, sagte ich, und Erich Stern, der erfolgreiche und harte Manager, faltete die Hände, und während er mit Gott sprach, liefen ihm die Tränen über das Gesicht, und er schämte sich nicht.
Gerda, die Bedienung hinter der Theke, nahm das Schild „Konferenz“ aus einer
Schublade, ging leise zum Eingang, hängte es von außen an die Tür, und als ich ihr dankbar zunickte, schloss sie sie ganz behutsam.
Es war ein langes, anklagendes, um Verstehen ringendes, annehmendes und
vertrauendes Gebet, die Heimkehr des Erich Stern zu seinem Gott und Vater.
Es gibt Schicksalsschläge, für die haben wir Menschen keine Erklärung. Wohl, weil wir endliche Geschöpfe sind mit einem endlichen Urteils- und Denkvermögen. Wir
verstehen nur das, was wir im wahren Sinn des Wortes „begreifen“ können, und
dennoch geschieht gerade in den dunkelsten Stunden, was wir aufgeklärten, modernen und klugen Leute allzu gern nachsichtig belächeln: Dass unser Schreien aus der Tiefe von dem gehört wird, an den wir es adressiert haben.
Erich Stern hat es erlebt.


(aus „Nachdenkliches für Vielbeschäftigte“ von Karlheinz Binder)