Weihnachten
Mit vier Jahren erlebe ich erstmals die Vorweihnachtszeit ganz bewusst mit all ihrem Zauber und Geheimnis. Wir Kinder können in jener Zeit 1945 wahrlich keine großartigen Geschenke erwarten und mit üppigen Festlichkeiten rechnen. Es sind vielmehr die kleinen Dinge, die uns mit Vorfreude erfüllen. Für unsere Mutter ist diese wunderbare Zeit der Lichter und Geheimnisse von dunklen Schatten und tiefem Bangen überdeckt. Noch immer hat sie keine Nachricht von unserem Vater, ob er noch lebt und aus russischer Gefangenschaft nach Hause kommt.
Es wird Heiligabend.
Die Spannung in den Kinderherzen erreicht ihren Höhepunkt. Es klingelt, der Postbote bringt einige Briefe. Wir springen davon, lachen, singen und toben. Als wir in die Küche kommen, bleiben wir erschrocken stehen und verstummen. Mutter sitzt über einen Brief gebeugt, der in ihren Händen zittert, und weint. Nur mühsam gelingt die Erklärung: Ein Kriegskamerad hat uns mitgeteilt, dass unser Vater in einem russischen Gefangenenlager erkrankt und am 15. Oktober verstorben ist. Wir drücken uns an die Mutter, Traurigkeit erfüllt den Raum. Lange finden sich keine Worte, es ist totenstill. Mitten hinein in die stumme Verzweiflung dringt meine kindlich besorgte Frage: „Mama, fällt Weihnachten jetzt aus?“ Meine Mutter stutzt, gibt sich einen Ruck, nimmt mich in den Arm und sagt: “Nein, jetzt feiern wir erst recht Weihnachten!“ Und dann beginnt meine Mutter, ihre Traurigkeit und ihr Leid damit zu bewältigen, dass sie uns Kindern die Weihnachtstage gestaltet.
Die Weihnachtsbotschaft von der Freude fällt nicht aus, weil es in unserer Welt so viel Leid und Tränen, Angst und Sorge gibt, sondern gerade deswegen und dann „erst recht“ werden Geburt und Kommen Christi verständlich. Weihnachten fällt nicht aus, wenn Trauer und Leid die Menschen bedrängen, sondern fällt hinein in die ganze Dunkelheit irdischen Lebens. Das Kommen Gottes in die Welt hat ja mit unserer Not und Trauer, unserem Leben und Sterben zu tun.
Axel Kühner